Ein Kranich für den Kaiser - ein Kunstmärchen
Vom unsichtbaren Wert echter Kunst. Frei nach einer japanischen Erzählung.
1. Kapitel: Der Auftrag
Als eines Tages der japanische Kaiser in den Zen-Garten seines Palastes trat, um in der Stille des Nachmittags zu meditieren, keimte in ihm ein Gedanke, der ihn von seiner herrschaftlichen Ruhepause an diesem Tage abhalten sollte.
Vor einiger Zeit hatte er von einem Künstler gehört, der
tief im Herzen seines Reiches lebte und aus einem schlichten Blatt Papier einzigartige
Kunstwerke erschaffen konnte. Man nannte ihn den Origami-Meister, einen Mann,
dessen Kraniche mit solch filigraner Eleganz und Schönheit gefaltet waren, dass
sie beinahe zu fliegen schienen. Die Bewohner des Landes verehrten ihn, und das
Volk sprach davon, dass seiner Kunst magische Kraft innewohne.
Der Herrscher glaubte zwar nicht an Magie, jedoch war er ein großer Freund von Schönheit. „Schönheit,“ pflegte er zu sagen, „ist der wahre Spiegel der Macht. Sie muss ohne Makel sein.“ Und so beschloss er, statt sich der geistigen Transzendenz hinzugeben, mit einer kleinen Entourage aufzubrechen, um diesem Meister der Faltkunst einen Besuch abzustatten. Denn er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass der Künstler ihm einen Kranich erschaffen würde, der so einzigartig und wunderschön sein sollte, wie es einem Kaiser würdig wäre.
Also ließ er die besten Männer seiner Leibgarde antreten und die Pferde satteln, bestieg seine Sänfte und machte sich auf den Weg zu dem Atelier des Künstlers. Ihr Ziel lag weit außerhalb der Hauptstadt, eingebettet in die sanften Hügel und Bambushaine der östlichen Provinzen, so dass sie mehrere Tagesritte vor sich hatten…
Nachmittägliches Sonnenlicht senkte sich auf den Kaiser und seine Bediensteten herab, als sie schließlich das Tal erreichten, in dem das kleine Dörfchen lag, in dem der Origami-Meister wohnte. Zielstrebig folgten sie dem von goldgelben Sträuchern gesäumten Pfad zum Atelier des Künstlers, das sich am Rande der Ortschaft an die Ausläufer eines kleinen Kiefernhains schmiegte.
Der Meister selbst war ein Mann mittleren Alters, von stiller Anmut und einer gelassenen Ruhe, die den Kaiser in den Bann zog. Mitsuaki, wie er mit richtigem Namen hieß, erhob sich bedächtig, als der Kaiser eintrat, und verneigte sich tief. „Majestät, es ist mir eine große Ehre, Euch in meinem bescheidenen Atelier willkommen zu heißen,“ sagte er, während er sich respektvoll aufrichtete.
„Ich habe viel von Eurer Kunst gehört,“ sprach der Kaiser mit einem leichten Nicken. „Es heißt, dass Eure Kraniche zu leben scheinen und eine kaum in Worte zu fassende Schönheit ausstrahlen würden. Ich will, dass ihr einen solchen Kranich für mich erschafft – und zwar den schönsten, der je unter euren Händen das Licht der Welt erblickt hat. Ein Kranich, der eines Kaisers wahrhaft würdig ist!“
Während eine leichte Brise die Schwarzkiefern vor den Fenstern des Ateliers leise raunen ließ, neigte Mitsuaki nachdenklich den Kopf und schwieg für einen langen Augenblick. Als er schließlich den Blick hob, war sein Gesicht von einer tiefen, fast schon entrückten Ernsthaftigkeit durchzogen.
„Eure Majestät,“ begann er seinen hohen Besuch anzusprechen, „Euer Wunsch erfüllt mich mit Freude und Ehrfurcht. Doch solch ein Werk von vollkommener Schönheit, wie ihr es verdient, zu erschaffen, wird viel Zeit und noch mehr Hingabe erfordern.“ Er hielt inne und schien sich kurz zu besinnen, bevor er weitersprach: „Gebt mir ein Jahr und zehntausend Goldmünzen, dann werde ich für Euch den wundervollsten Kranich fertigen, den ich jemals geschaffen habe.“
Der Kaiser hob überrascht die Augenbrauen, doch in seinem Blick lag kein Unmut, sondern ehrliches Interesse. „Ein ganzes Jahr und zehntausend Goldmünzen, um ein einzelnes Blatt Papier zu falten?“ fragte er mit schmalgewordenen Augen, während ein stilles Lächeln seine Lippen umspielte. „Ist dies der Preis der wahren Kunst?“
„Ja, Majestät,“ antwortete der Künstler und schaute dem mächtigen Auftraggeber fest in die Augen. „Denn nicht das Falten des Kranichs ist die Herausforderung – es ist die Suche nach Perfektion. Ich werde nicht nur einfach einen Kranich für Euch falten. Ich werde all mein Wissen, all meine Fertigkeit und meine Hingabe investieren, um etwas zu schaffen, das seinesgleichen sucht.“
„Gut, Meister Mitsuaki,“ sprach der Gottgleiche und wiegte nachdenklich den Kopf. „Ich werde euch das Gold senden und in einem Jahr zurückkehren, um persönlich das Werk in Empfang zu nehmen. Vergesst nicht, dass dies kein gewöhnlicher Kranich sein soll – ich erwarte, dass ihr etwas schafft, dessen Vollkommenheit nur durch seine Schönheit übertroffen wird!“
Der Hausherr verneigte sich tief und demütig, aber zugleich mit stolzer Anmut, da er eine solche Aufgabe anvertraut bekam.
Während die Sonne den Horizont im Westen küsste, verließen
der Kaiser und sein Gefolge das Gehöft des Künstlers und brachen in Richtung
der Hauptstadt auf.
Auf dem Heimweg sinnierte er darüber, wie ein so schlichtes Ding wie ein
Kranich aus Papier zu etwas werden konnte, das die höchsten Erwartungen an
Schönheit und Anmut verkörperte. Aber vielleicht lag ja genau in dieser
scheinbaren Einfachheit und Schlichtheit der Reiz des Vollkommenen...
Mit einem purpurnen, von goldgelben Tönen untermalten
Farbspektakel erreichte der Herbst seinen kurzen Höhepunkt, bevor er dem mit
eiserner Faust anklopfenden Winter schnell die Tür öffnete und einem sich
unerbittlich ausbreitenden Teppich aus glitzerndem Schnee und beißender Kälte
wich.
Mit der alljährlichen Kirschblüte fanden aber auch die dunklen Tage ein Ende und
das Frühjahr ließ einem drückenden und schwülen Sommer den Vortritt, an dessen
Ende der Kaiser immer unruhiger wurde und nur unter Mühen seinen Geistesübungen
in der Abgeschiedenheit der kaiserlichen Gärten nachgehen konnte: Der Tag der
Fertigstellung nahte!
Und schließlich war es soweit: Der Herrscher betrat nach einer kurzen Reise in den Osten seines Reiches das großzügig geschnittene, aber sehr schlicht gehaltene Atelier Mitsuakis, der ihn bereits ehrfurchtsvoll erwartete.
Während eine sanfte Brise den köstlich würzigen Duft des herbstlichen Kiefernwaldes durch die offenen Fenster in den Raum trug, spürte der Auftraggeber sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Mein lieber Meister Mitsuaki, ist mein Kranich fertig?“ fragte er, seine Ungeduld und Unsicherheit mit Mühe verbergend.
Der Meister verneigte sich lange und sehr tief, hielt kurz inne, und gab dann zu: „Mein gottgleicher Kaiser, ich muss um Vergebung bitten, aber… die Arbeit ist noch nicht beendet.“ Er nahm einen tiefen Atemzug und fuhr fort: „Ich benötige weitere zehntausend Münzen und ein weiteres Jahr.“
Im nächsten Moment herrschte eine Stille, die sich endlos zu ziehen schien und nur durch das zarte Singen der Vögel in den Bäumen stimmungsvoll untermalt wurde. Wie ein unsichtbares Gewicht schwebten die Worte des Gastgebers im Raum und lähmten alle Anwesenden. Im Blick des Kaisers schien ein Kampf stattzufinden; zorniges Funkeln wechselte sich mit gelassener Erhabenheit und zitternder Ohnmacht ab. Doch schließlich gewann seine Jahrzehnte geschulte Gelassenheit die Oberhand, der Kaiser atmete langsam ein, und sein Ausdruck glättete sich.
„Ich werde Euch ein weiteres Jahr gewähren,“ sagte er mit ruhiger, doch fester Stimme. „Doch überreizt meine Geduld nicht; sorgt dafür, dass mein Warten im nächsten Jahr nicht vergeblich sein wird!“ Mit einem leichten Nicken drehte sich der Kaiser um und verließ das Atelier, seine Schritte schnell und entschlossen.
2. Kapitel: Die Geduldsprobe
Obwohl er dank seines Zen-Meisters gelernt hatte, seinen Geist zu fokussieren und zu beruhigen, regte sich doch im Inneren des Kaisers eine fiebrige Unruhe, als das zweite Jahr des Wartens in einen nasskalten Herbst eintrat, in dem beißende Frostnächte von der Nähe eines harten Winters kündeten.
Zwanzigtausend Goldmünzen und zwei Jahre seines Lebens – eine große Investition in ein Kunstwerk, das zwar außergewöhnlicher sein sollte als alles, was das Reich je gesehen hatte, jedoch bislang nur ein Versprechen war und das ihm, dem Gottgleichen, mehr Vertrauen und Geduld abverlangte, als es selbst in den schwierigsten Situationen seiner Zeit als Regent der Fall gewesen war.
Es war ein stürmischer und trüber Morgen, ein kalter Nordwind ließ die letzten roten und gelben Blätter der fast kahlen Bäume über dem Boden, an den Mauern entlang ihren letzten Tanz aufführen, als der Herrscher aufbrach, um dem Atelier des Künstlers seinen Besuch abzustatten.
Nach einer Reise, die länger und beschwerlicher als die
erste war, erreichten Sie das Dorf, in welchem Mitsuaki sein Atelier
unterhielt. Schon von weitem sahen sie
das flackernde Kerzenlicht, welches sich seinen Weg durch die milchig trüben Fenster
der Werkstatt bahnte.
Der Künstler erwartete den Kaiser bereits und erwies ihm in einer demütigen
Verneigung vor dem Eingang seinen Respekt. Er begleitete schweigend seinen
Auftraggeber ins Innere seiner Wirkungsstätte, wo sie eine wohlige Wärme, aber
auch eine drückende Stille empfing.
„Nun,“ begann der Kaiser ohne Umschweife, „ist mein Kranich vollendet?“, während sein Blick suchend den Raum überflog.
Der Künstler atmete tief ein und hob langsam den Blick. In
seinen Augen lag eine Mischung aus Bedauern und Entschlossenheit und nur ein
kaum wahrnehmbares Flackern verriet die tief liegende Furcht, die der nun
folgenden, unerfreulichen Nachricht innewohnte.
„Eure Majestät,“ begann er sanft, „ich danke Euch für Euer großzügiges
Vertrauen, welches ihr nun bereits 2 Jahre mir und meiner Arbeit geschenkt habt
– jedoch verzeiht mir… Die Arbeit…“, an dieser Stelle änderte sich sein
Ausdruck, er wurde fest und entschlossen und nur eine einsame Schweißperle auf
der Stirn verriet noch den letzten Hauch von Nervosität, die dem Meister
angesichts seines Gebieters innewohnte.
„Die Arbeit an Eurem kaiserlichen Kranich, sie ist noch nicht vollendet.“ Er
sprach jedes Wort mit Bedacht, als würde es ihm selbst noch schwerfallen, die
Bedeutung zu akzeptieren. „Ein weiteres Jahr werde ich benötigen, und nochmals
zehntausend Münzen sind erforderlich, um Eurem Werk jene Vollkommenheit zu
verleihen, die Euch gebührt.“
Für einen Moment herrschte lähmendes Schweigen. Der Kaiser presste die Lippen zusammen, seine Hand zuckte unbewusst zu seinem Schwertknauf und mit seinem Blick schien er den Künstler zu durchbohren.
„Erneut“, erhob er seine Stimme, welche, wie von einem fernen Grollen getragen, den Raum erfüllte, „bittest du mich um Zeit und Gold!“. Der schuldbewusst dreinblickende Mitsukai ertrug stoisch die an ein aufziehendes Gewitter erinnernden Worte, während sein Auftraggeber weitersprach: „Ich habe in meinem Leben unzählige Schlachten geschlagen, Kriege gewonnen, und stets wusste ich, was ich von meinen Männern erwarten konnte. Aber was ist mit Dir Mitsuaki? Ein drittes Mal enttäuschst Du mich, ein drittes Mal erwartest Du Aufschub und Entlohnung, während ich mit leeren Händen dastehe. Warum sollte ich dir glauben, dass es beim nächsten Mal anders sein wird?“
Mit jedem gesagten Wort erfüllte die mächtige Stimme des Herrschers mehr und mehr den Raum, der unter der Last der unheilschwangeren Ansprache zu erzittern schien. Während er selbst äußerlich gefasst blieb, wichen seine Gefolgsleute unwillkürlich zurück, lediglich der Künstler hielt stand und setzte, nachdem die Frage des Regenten verklungen war, zu einer beherzten und gefassten Antwort an.
„Majestät,“ sprach er, „Euer Vertrauen ehrt mich zutiefst, und voller Ergebung möchte ich Euch versichern, dass mir die Last meines Versprechens bewusst ist. Doch bitte ich Euch untertänigst darum mir zu glauben, wenn ich Euch sage, dass wahre Kunst die Zeit benötigt, die es braucht und selbst ich nicht vorhersehen kann, wann ein Kranich, der Euer wirklich würdig ist, vollendet sein wird. Ich arbeite mit vollem Herzen darauf hin, werde nicht rasten und jedes Opfer bringen, das nötig ist, bis ich Euren Wunsch erfüllt haben werde. Darum bitte ich Euch: Schenkt mir ein letztes Mal Euer Vertrauen, und ich bin sicher, dass das Warten ein Ende finden wird.“
Der Blick des Kaisers verengte sich, er fixierte den Sprechenden und suchte in seinen Augen nach einem Zeichen von Furcht oder Zweifel, fand jedoch nichts als unerschütterliche Offenheit und tief sitzende Überzeugung. Das schmerzende Misstrauen, das ihn bis jetzt erfüllt hatte, wich langsam einem Gefühl von Respekt; Respekt vor dem Mut, aber auch vor der Willensstärke Mitsuakis, der ganz offensichtlich fest entschlossen war, seinen Auftrag kompromisslos auszuführen. Er schwieg für eine Weile, wiegte gedankenverloren den Kopf und wählte die auf die drückende Stille folgenden Worte sorgsam und mit Bedacht aus:
„Höre, Meister der Faltkunst: Ein letztes Mal werde ich Dir eine Frist gewähren, und dies ist das letzte Gold, das ich dir überlasse. Merke dir meine Worte: Wage es nicht, mich erneut zu enttäuschen!“
Den Kopf geneigt, schenkte der so angesprochene seinem Auftraggeber ein sanftes Lächeln. „Euer Vertrauen bedeutet mir mehr als alles Gold, Majestät,“ sagte er leise. „Und ich versichere Euch, dass mir nichts ferner liegt, als dieses Vertrauen zu missbrauchen.“
Der Kaiser nickte mit Bedacht, drehte sich schweigend um, und verließ das Atelier mit festem Schritt, seine Gefolgschaft hinter sich herziehend. Allein zurückgeblieben, starrte Mitsuaki auf das Papier, das auf dem Tisch vor ihm lag – ein einzelnes, unberührtes Blatt von makelloser Reinheit. Lange saß er so, lauschte dem Wispern der Schwarzkiefern vor dem Haus, sinnierte über das Geschehene und stand schließlich auf, um vor dem Haus, mitten im mittlerweile tosenden Sturm, einige Holzscheite zu holen, mit denen er der nur noch schwach glimmenden Glut in der Feuerstelle neue Nahrung gab.
In den folgenden Monaten kehrten die Gedanken des Kaisers immer wieder zu dem beauftragten Kunstobjekt und den Künstler zurück. Noch nie hatte er es geduldet, dass ihn jemand ungestraft hinhielt, geschweige denn über einen Zeitraum von 3 Jahren hinweg! Doch er verstand es, seinen Zorn und seine Ungeduld im Zaum zu halten, denn in seinem Herzen wusste er, dass Mitsuaki ein ehrlicher und redlicher Mann war, auch wenn dieser den Zeitrahmen für seine Arbeit offensichtlich falsch eingeschätzt hatte.
Zäh und schleppend verging das Jahr. Nachdem ihm im Winter ein Aufstand im Süden des Landes für kurze Zeit Ablenkung brachte, zogen sich die darauf folgenden Wochen und Monate in einem düsteren und langen Winter ereignislos hin, selbst in seinem Zen-Garten fand er nicht die gewohnte geistige Erfüllung.
Im Frühjahr, kurz nachdem die Kirschblüte mit ihrer kurzlebigen Pracht ein wenig Licht in sein Gemüt gebracht hatte, flammten Grenzstreitigkeiten in den nördlichen Provinzen auf. Aber auch diese brachten ihm keine Ablenkung, sein ältester Sohn, der mit diplomatischem Geschick gesegnet war, konnte den Zwist geräuschlos und zügig befrieden.
Das Frühjahr machte einem schwülen Sommer mit langen, verregneten und wolkenverhangenen Tagen Platz, bevor der Herbst eine selten schöne Komposition von leuchtenden Farben arrangierte, die dem Wechselspiel der Jahreszeiten einen versöhnlichen Abschluss bescherten.
An einem Tag im Oktober, die Sonne hüllte den bereits angebrochenen Tag in goldenes Licht, während eine von Osten kommende Brise das erste Laub über den Wegen, Wiesen und in den Parks der Hauptstadt tanzen ließ, sattelte zum dritten Mal in Folge die kleine Entourage des Gottgleichen die Pferde und gemeinsam ritten sie dem Wind entgegen, zu den Hügeln und Bambushainen, in welchen das Dorf lag, wo der Origami-Meister lebte.
Als sie nach mehreren Tagesritten eintrafen, erwartete dieser den Kaiser bereits und empfing ihn mit einer tiefen Verneigung. Er führte ihn, ohne ein Wort zu verlieren, zu einem schlichten Tisch in der Mitte seines Ateliers, auf welchem ein einzelnes Blatt feinsten Papiers lag. Der Auftraggeber stutzte, wollte etwas sagen, doch sein Gastgeber hob beschwichtigend die Hand, bat um Geduld und nahm mit sorgfältigem Bedacht das Papier in die Hände.
Was nun folgte, ging so schnell, dass weder der Kaiser, noch seine Leibwächter dazu in der Lage waren, darauf zu reagieren: Mit unerwarteter Geschwindigkeit und vollendeter Präzision begann der Meister damit, das Blatt Papier in der Luft zu falten. Seine Bewegungen waren blitzschnell, gleichzeitig anmutig und fließend, so, als ob sie einen geheimnisvollen Tanz aufführten, bei dem es nicht nur um Schönheit, sondern auch um Schnelligkeit ging. Kurz schien die Zeit still zu stehen, der Raum war in staunendes Schweigen gehüllt, während der Künstler geradezu ekstatisch ein überirdisches Ritual aufzuführen schien.
Und obwohl es allen eine Ewigkeit zu sein schien, während der sie dem Meister verzückt bei seiner Arbeit beobachteten, waren es doch nur wenige Augenblicke, bis dieser dem Kaiser einen Kranich entgegenhielt, dessen Perfektion und Schönheit so vollkommen war, dass man glauben wollte, dieser sei nicht von dieser Welt.
Der Kaiser nahm den eleganten Vogel aus Papier vorsichtig in
die Hände, betrachtete ihn aus nächster Nähe, hob ihn in die Luft und prüfte
ihn mit einer hingebungsvollen Sorgfalt, die den Kunstliebhaber in ihm verriet.
Er bewunderte begeistert die Arbeit; jeder Falz schien nicht das Werk eines
Menschen zu sein, sondern erweckte den Eindruck, als sei er natürlich gewachsen
– und so künstlich und zugleich künstlerisch der Vogel war, so lebendig und
majestätisch war seine kleine und zarte Gestalt. Das erste Mal in seinem Leben
war der mächtige Kaiser sprachlos.
Doch urplötzlich verfinsterte sich sein Ausdruck, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen und plötzliches Misstrauen glomm in seinen Augen.
Wie schon vor einem Jahr, erhob sich seine Stimme, die an einen langsam eruptierenden Vulkan erinnerte: „Wie kommt es, dass ich drei Jahre lang warten musste? Wie kann es sein, dass ich drei Mal Zehntausend Goldmünzen zahlen musste? Nur um am Ende festzustellen, dass dir die Zeit eines Wimpernschlages ausreicht, um mir meinen Wunsch zu erfüllen? Erkläre Dich, Mitsuaki und versuche nicht, mich für dumm zu verkaufen – du würdest es bitter bereuen!“
Der Künstler nahm diese Verwandlung, die den Kaiser vom Zustand der Verzückung in einen Zustand der Aggression und des Jähzorns transformierte, wohl wahr – doch schien er nicht überrascht zu sein, im Gegenteil machte es den Eindruck, als hätte er genau mit dieser Reaktion gerechnet.
Respektvoll lächelnd neigte er den Kopf und begann zu sprechen, wobei er jedes Wort wohlüberlegt und mit Bedacht aussprach: „Eure Majestät, ich bin Euch für Eure Geduld und für Euer Vertrauen zu tiefstem Dank verpflichtet. Es wird mir eine Ehre sein, mich zu erklären; lasst Euch von mir demütigem Diener zeigen, weshalb ich diese Zeit benötigt habe. Dazu bitte ich euch, mir nach draußen zu folgen.“
Der Angesprochene war sichtlich irritiert von der besänftigenden, respektvollen und doch überaus bestimmten Reaktion des Meisters, und so folgte er ihm widerspruchslos in den Hof des Anwesens, von dem aus man bis zum westlichen Horizont blicken konnte, wo die Sonne bereits die fernen Hügelketten küsste.
Im rötlich feurigen Abendlicht erhob sich hinter dem Atelier majestätisch eine riesige, aber ansonsten ganz und gar unscheinbare Scheune, zu welcher der Origami-Meister den Erzürnten und sein Gefolge führte.
Ihm aufrecht in die Augen blickend öffnete er das schwere Scheunentor, während das letzte Abendlicht die gespannten Mienen seiner Besucher umspielte und Zikaden die letzten Lieder des Jahres anstimmten, so dass der verblassende Tag in eine sinnliche und mystische Stimmung getaucht wurde.
Langsam gab das Tor den Blick ins Innere des Gebäudes frei, und nachdem sich die Augen des Kaisers und seiner Gefolgsleute an das geheimnisvolle Halbdunkel in seinem Inneren gewöhnt hatten, blickten sie fassungslos auf das, was sich ihnen nun offenbarte:
Fortsetzung folgt...
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